Johannes Kühn schöpfte aus den Tiefen eines verletzlichen Gemüts ebenso wie aus den Tiefen einer alten deutschen lyrischen Tradition
Im Dorf hieß er Hans, seine Freunde nannten ihn Schang – eine saarländische Verballhornung des französischen Vornamens Jean. Johannes Kühn war einer der Stillen und Scheuen im Lande, die mit wachem Geist beobachten, was um sie vorgeht. Schon als Schüler begeisterte er sich für die Poesie. Im Lesebuch entdeckte er die ersten Gedichte. Später stieß er auf Goethe, Trakl, Mörike und Hölderlin und besorgte sich vom ersparten Geld Lyrik-Bändchen mit ihren Werken. Vor allem der deutsche Klassiker Friedrich Hölderlin war es, der ihn zum Schreiben anstiftete und ihn auf der Suche nach seinem eigenen Stil inspirierte.
Seine Themen fand der Dichter in der dörflichen Lebenswelt seines saarländischen Heimatortes Hasborn-Dautweiler, in dem er sein ganzes Leben verbrachte. Nachdrücklich suchte er die Nähe zur Natur, die er als einen Raum der Freiheit empfand. Mit wehendem Mantel durchstreifte er die Wälder und Fluren, beobachtete die Tiere und die Jahreszeiten. Den Menschen begegnete er im Wirtshaus und im privaten Umfeld. Seine Eindrücke und Empfindungen brachte er in ungebundenen, rhythmisch schwingenden Versen zum Ausdruck.
Der erste Leser seiner Schöpfungen war zumeist sein Mitschüler Benno Rech aus dem Nachbarort Thalexweiler, der später Germanist wurde und gemeinsam mit seiner Frau Irmgard unermüdlich für die Verbreitung der Gedichte sorgte. Bis ins hohe Alter trafen Benno oder Irmgard Rech sich täglich außer sonntags um die Mittagszeit im Gasthaus Huth in Hasborn zur Besprechung mit Johannes Kühn, der dann jeweils drei neue Poeme präsentierte.
Der literarische Durchbruch gelang nach Jahren der Entbehrung im Herbst 1989, nachdem der saarländische Schriftsteller Ludwig Harig den Kontakt zum Münchner Carl Hanser Verlag hergestellt hatte. Dort erschien, herausgegeben von Irmgard und Benno Rech, der Gedichtband „Ich Winkelgast“, in dem Johannes Kühn seine Nöte als Außenseiter im dörflichen Milieu artikulierte. Die Resonanz war beachtlich. Die Feuilletons der großen Zeitungen merkten auf, die FAZ druckte gleich mehrere seiner Gedichte ab.
Den Kennern war klar, dass da einer ebenso aus den Tiefen eines verletzlichen Gemüts schöpfte wie aus den Tiefen einer alten deutschen lyrischen Tradition. Mit seiner realitätsgesättigten Alltagserfahrung, seinem festlichen Ton sowie der Kraft und Klarheit seiner Bilder brachte der Dichter die Schönheit des Unscheinbaren zur Geltung, so empfanden es viele. Er vermied die ästhetische Verrätselung, denn er wollte, dass seine Gedichte von allen verstanden werden.
In den folgenden Jahren wurde Johannes Kühn weit über das Saarland hinaus bekannt. Sein Kollege Ludwig Harig feierte ihn als „einen Weltmensch besonderer Prägung“, sein Verleger Michael Krüger nannte ihn „den Hölderlin von Hasborn“. Der Autor erhielt zahlreiche Einladungen und bedeutende Ehrungen, so den Kunstpreis des Saarlandes und den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg vor der Höhe. Seine Heimatgemeinde Tholey, zu der Hasborn-Dautweiler gehört, ernannte ihn zum Ehrenbürger.
In seinen 89 Lebensjahren hat der rastlos tätige Schriftsteller, einer der produktivsten Lyriker des deutschen Sprachraums, insgesamt rund 30.000 Gedichte verfasst. Sie wurden von Benno und Irmgard Rech in rund 180 Ordnern gesammelt und sind bisher nur zum Teil in 25 Lyrikbänden veröffentlicht, die vergleichsweise hohe Auflagen erzielten. Übersetzungen erschienen in neun Sprachen. Johannes Kühn starb am 3. Oktober 2023 und wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung auf dem Friedhof seines Heimatdorfes Hasborn-Dautweiler beerdigt.
Er war ein Außenseiter, der sein Dorf nur selten verließ und der den dörflichen Alltag zum Kosmos seiner Weltbetrachtungen machte – Wie Johannes Kühn von seinem Eckplatz im Hasborner Gasthaus Huth aus das Dasein erkundete und dafür die Anerkennung seiner Zeitgenossen fand – Eine Reportage aus dem Jahr 2008
Von Klaus Brill
Dieses eine Wort schon, das er damals für sich fand: Winkelgast. Johannes Kühn ist längst ins Licht der großen Bühnen gebeten worden, doch wenn man ihn an seinem Eckplatz im Gasthaus Huth so sitzen sieht, mit leichter Hand den Stift auf dem Papier bewegend, erscheint die Selbstverortung dieses Dichters immer noch plausibel. Er Winkelgast, er wirkt vom Rand aus in die Mitte hin. Der Stuhl, der Tisch, die Wand, der Kosmos Kneipe – hier hockt er, hört und schaut und schreibt. Die Worte fließen ihm rasch dahin, er trinkt Kaffee und Sprudel, manchmal Tee.
Johannes Kühn hat feste Gewohnheiten. Täglich außer sonntags erwartet er im Gasthaus gegen Mittag die Ankunft von Benno oder Irmgard Rech, den Freunden, die aus seiner Hand die Produktion des Vortags entgegennehmen. Immer sind es drei Gedichte, handschriftlich und im Typoskript, die Blätter an einander geklammert. Sie werden gelesen, bedacht, besprochen und von Irmgard oder Benno Rech am unteren Rand mit einem Datumsvermerk versehen – für später, für Marbach, für die Ewigkeit. „Die Besprechung ist wichtig“, sagt Kühn.
Manchmal kommt auch der Ortsvorsteher Walter Krächan in die Kneipe, geht vom Türfang aus die paar Schritte hin zum Autor in seinem Eck und begrüßt ihn. Die Vermutung, dass Johannes Kühn solche Gesten der Aufmerksamkeit schätze, kann aufgrund verschiedener spärlicher Äußerungen als korrekt betrachtet werden. In aller Bescheidenheit goutiert er den Ruhm, der ihn ereilt hat. Es ist ein kleiner Sieg der Poesie. Denn es war ja nicht immer so, dass man hier im Lokal, im Dorf, im Kreis St. Wendel, im ganzen Saarland gesagt hätte: Hasborn hat einen großen Dichter, und das ist gut so.
Früher einmal schrieb Johannes Kühn: „Ich Winkelgast, gemieden, nur besucht vom welligen Gelächter, das als Meer mir an die Stirne spült, bedenke, dass mein halber Groschen schwitzt.“ Als „verlachten Dichter im Wirtshaus“ erlebte und beschrieb er sich, als Elendsesel oder Tagdieb sah er sich verspottet, und wenn sie ihn sekkierten, er solle doch mal was zum Besten geben, dann deklamierte er mit seiner rauhen Stimme: „Ins gelbe Bier die gelbe Sonne fällt. Die Schatten, schwarze Männer, bellen an den Tischen.“ Und weiter: Ich Winkelgast...
Ein Krawatte tragender Außenseiter
Ist lange her. Johannes Kühn ist mittlerweile „per aspera ad astra“ gelangt. Er wurde verachtet und wird jetzt verehrt. Er gilt nun als Prophet auch im eigenen Land. Womit der wundersame Werdegang dieses Krawatte tragenden Außenseiters zum Indiz dafür wird, wie sehr sich in den fernen Winkeln der Republik das Klima gewandelt hat. Volks- und Hochkultur vermengen sich, jedenfalls in Hasborn im Gasthaus Huth. Im Anblick eines grob geschnitzten Brauereigespanns, das aus der Wandnische grüßt, ist die Poesie eine friedliche Koexistenz mit dem Kartendrusch am Stammtisch und dem Radiogedudel eingegangen, das vom umlärmten Büffet herüberdringt.
Die Begleitmusik verdirbt dem Dichter keineswegs den hohen Ton, den er in früher Jugend schon gefunden und nie mehr losgelassen hat. Wie kommt ein ältestes von neun Kindern eines Bergmanns zur Literatur? Durch einquartierte Wehrmacht-Soldaten, die 1944 am Westwall schanzten und beim Abzug in einer Fensternische Goethes „Werther“ zurückließen, sagt Kühn. Er war damals zehn Jahre alt und entflammte gleich, so wie später mit 14, als er das Gymnasium der Steyler Missionare in St. Wendel bezog und dort auf Goethe, Hölderlin, Mörike, Trakl stieß. Vom ersten ersparten Geld besorgte er sich Lyrik-Bändchen mit ihren Werken. Benno Rech aus dem Nachbarort Thalexweiler, ebenfalls ein Bergmannssohn, ebenfalls als Hütejunge erfahrener denn als Bildungskonsument, stieß damals ebenfalls im „Missionshaus“ auf diese Dichter, „und dann sind wir zwei im Wald herumgelaufen und haben uns gegenseitig die Gedichte vorgetragen“, wie Rech erzählt. Eine Lebensfreundschaft ist daraus geworden, die jetzt 60 Jahre währt. „Und immer ist es so gewesen, dass ich der Dichterknecht war“, sagt Rech. „Ich habe genau gemerkt, dass ich nicht dichten konnte, aber dass er es kann.“
Kühn hat damals, als Untertertianer, in Schönschrift den ganzen Hölderlin’schen Briefroman „Hyperion“ abgeschrieben. Ein Lehrer entriss ihm das Buch und schleuderte es zu Boden, als der Schüler einmal unter der Bank darin las. Beim Abendessen freilich war Literatur willkommen, man trug Gedichte vor. Johannes Kühn wartete mit eigenen Versen auf, die Mitschüler lästerten, da mischte er unter seine Poeme auch Nietzsches „Ecce homo“. Es wurde ebenfalls verrissen, da wusste der junge Autor, dass die Kameraden keine Ahnung hatten. „Man muss als Dichter eine dicke Haut haben,“ sagt Kühn, das hat er damals schon gelernt.
Als zweiter Mann am Bagger
Er brauchte diese Widerstandskraft, nachdem er sich mit etwa 20 Jahren entschieden hatte, „nur noch Poet zu sein“. Das „Missionshaus“ verließ er wegen einer schweren Krankheit noch vor dem Abitur, dennoch nahm er mit Rech und anderen eine Weile als Gasthörer am Germanistik-Studium in Saarbrücken und Freiburg teil. Eine Schauspieler-Ausbildung in Saarbrücken führte nicht zum Rundfunk, wie erhofft, wohl aber dazu, dass Johannes Kühn zahllose Dramen schrieb. Zehn Jahre lang, bis 1973, war er sodann als Hilfsarbeiter in der Baufirma seines Bruders Alois tätig, zeitweise der zweite Mann am Bagger, der mit der Schippe der Baggerschaufel nachgeht. Zwei Brüder Kühns und der Mann seiner jüngsten Schwester Martina, in deren Haushalt im Elternhaus er lebt, sind oder waren Baggerfahrer.
Dass der 40-Jährige fortan schnellen Schrittes, rauchend, mit zerzaustem Haar und wehendem Mantel durch das Dorf und über die Fluren um Hasborn und den Schaumberg wanderte und Gedichte schrieb, stieß im Ort auf jene Art von Unverständnis, die im Künstlertum getarnte Faulenzerei vermutet. Vor allem, wenn kein Geld zu sehen ist. „Brot braucht der Mensch und keine Verse“, sagte dem Poet der eigene Großvater, jedenfalls im Gedicht. Wann er denn so weit sei, fragte man ihn im Wirtshaus und mutmaßte, er halte sich wohl für „was Besseres“.
Fritz Kremser und Arnfried Astel, zwei Literatur-Redakteure des Saarländischen Rundfunks, sowie der Saarbrücker Verleger Karl-August Schleiden erkannten zwar die Qualität der Kühn’schen Lyrik und verbreiteten sie, die große Resonanz jedoch blieb aus. Da verfiel der Dichter ins Schweigen und stellte für ein Jahrzehnt das Schreiben, zeitweise auch das Sprechen ein. Und im Dorf schüttelte man den Kopf.
Aus der Verstummung befreiten ihn der Kunstpreis des Saarlandes, der ihm 1988 verliehen wurde, sowie die Hilfe eines klugen Psychiaters und die nachhaltige Zuwendung der eigenen Familie sowie der Familie Rech. Benno Rech war früh so felsenfest von der Berufung und Befähigung des Freundes überzeugt, dass er im Abituraufsatz eigenmächtig von dessen Lyrik handelte, was ihm keine gute Note eintrug. Als Germanistikstudent umwarb er dann die Kommilitonin Irmgard Prümm mit Gedichten Johannes Kühns, und die daraus erwachsene, vom Freund mit einer Ode gefeierte Ehe war auch deshalb dichterisch durchsetzt, weil fast täglich im neuen Heim in Thalexweiler ein Brief aus Hasborn mit neuen Poemen eintraf. Kühn sparte zwar das Geld für den Bus und lief meilenweit zu Fuß, diese Sendungen aber waren ihm das Porto wert.
Jugendfreunde: Johannes Kühn mit Benno Rech (links) und Alwin Besch (rechts), um 1954/55 Foto: V. Wilhelm
Was Freundschaft vermag
Irmgard und Benno Rech hätten ihm gewiss nicht so wirksam helfen können, wären sie nicht beide Gymnasiallehrer für Deutsch und also auch Experten für Literatur geworden; Kühn betrachtet sie deshalb auch als seine Mentoren. Und es schadete nicht, dass man bald engen Kontakt zu Ludwig Harig hatte, der als arrivierter saarländischer Autor ohne Umschweife zur tatkräftigen Unterstützung des Hasborner Kollegen bereit war. Weshalb die Vita des Johannes Kühn auch ein Beispiel dafür gibt, was Freundschaft vermag.
Irmgard und Benno Rech begaben sich für den Freund auf die Ochsentour zum Ruhm, sondierten bei Kleinverlagen, mit magerem Ergebnis. 1984 gaben sie im Saarbrücker Verlag „Die Mitte“ den Sammelband „Salzgeschmack“ heraus. Später riet Ludwig Harig, dem Verleger Michael Krüger in München, Leiter des Carl-Hanser-Verlages, ein Gedicht Johannes Kühns zuzusenden – und Krüger antwortete: „Schickt zehn für die ‚Akzente’“. Die Tür der berühmten Literaturzeitschrift öffnete sich.
Der 1989 von Krüger veröffentlichte Band „Ich Winkelgast“ brachte den Durchbruch. Allenthalben zeigten Kenner sich elektrisiert von der Bildkraft dieses Dichters, der klassischen Anmut seines Tons, der Genauigkeit der Beobachtungen. Hier schöpfte einer, das spürte man, aus Erlebtem, nicht Erlesenem; erzählte eigenwillig und in freien Rhythmen von Baggern und Raben, von Betrübten und Betrunkenen, vom Mond und von der Zeitung, vom Schaumberger Land und vom Dorf, das ihm ein tausendfältiges Universum ist. „Das Dorf steht als Grunderlebnis, und über das Grunderlebnis schreibe ich“, sagt Kühn an seinem Ecktisch im Gasthaus Huth. „Für Hölderlin war das die schwäbisch-griechische Welt.“
Für Kühn ist es sein saarländischer, sein Hasborner Kosmos. Bekannte Kollegen und die großen Feuilletons merkten auf. Ludwig Harig rühmte Kühn in der Süddeutschen Zeitung als „wahren Dichter“ und zog den Vergleich mit Immanuel Kant, der aus Königsberg noch seltener als Kühn aus Hasborn hinausgekommen und doch ein Weltmensch geworden sei. Peter Rühmkorf entdeckte an Kühns Gedichten „etwas seltsam Inspiriertes“ und notierte in der „Zeit“, diesen Versen hafte die Erfahrung auf dem Bau an „wie ein unabstreifbarer Erdenlehm“. Frank Schirrmacher, der Literaturchef und spätere Herausgeber der FAZ, druckte eine ganze Zeitungsspalte mit Gedichten Kühns, weil er mit den Kollegen seiner Redaktion der Meinung war, „dass hier eine Stimme ist, die man so noch nicht gehört hat“. Rainer Kunze trug bei Lesereisen zeitweise außer eigenen auch Poeme Kühns vor, und Peter Handke rief jubelnd „Habemus poetam“, als in der vierköpfigen Jury des Hermann-Lenz-Preises für das Jahr 2000 die Wahl auf Kühn gefallen war.
Wie übersetzt man „Winkelgast“ ins Französische?
Dies war nun schon die sechste solche Auszeichnung; 2004 folgte, besonders willkommen, der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg. Johannes Kühn, der Hölderlin auch heute quasi täglich im Munde führt, sprach damals von „einem der herausragenden poetischen Ereignisse meines Lebens“. Hatte er sich in Zeiten mangelnder Resonanz doch schon an Hölderlins Beispiel getröstet: der war erst viele Jahre nach seinem Tode breit bekanntgeworden. Auch in dieser Hinsicht also bedeutete Kühns Rückkehr aus dem Schweigen 1992 „ein Hölderlin-Schicksal mit gutem Ausgang“, wie Ludwig Harig es formulierte.
Irmgard und Benno Rech trugen dazu entscheidend bei, mit dem täglichen Dialog im Gasthaus ebenso wie durch die Begeisterung, mit der sie selbst im Urlaub das Hohe Lied des Freundes sangen. Auf Capri ergab sich so beim Frühstück mit zwei deutschen Damen der Kontakt zu dem japanischen Germanistik-Professor Mitsuo Iiyoshi, der Paul Celan ins Japanische gebracht hatte und sogleich auch Kühn übersetzte. Eine italienische Ausgabe kam zustande, nachdem der Lyriker und Literaturprofessor Edoardo Costadura beim Besuch seiner Schwiegereltern in Bonn durch Zufall auf den „Winkelgast“ gestoßen war, auch er ging gleich ans Werk. Auf Spanisch, Englisch, Polnisch, Tschechisch und Französisch sind Gedichte Kühns inzwischen ebenfalls erschienen, eine schwedische Ausgabe ist in Arbeit. Und jedesmal quälten sich die Übersetzer mit dem Wort „Winkelgast“, so auch bei einem dreitägigen Übersetzer-Kolloquium 1999 in Wolxheim im Elsaß, bei dem es nur um die Werke Johannes Kühns ging.
Damals war auch der Pariser Germanistik-Professor Jean-Pierre Lefebvre zugegen, den sein Kollege Costadura auf den unbekannten Saarländer aufmerksam gemacht hatte. Auch Lefebvre war elektrisiert, und da er gerade damit betraut war, in der hochberühmten Pariser Bibliothèque de la Pléiade eine zweisprachige Anthologie deutscher Dichtung herauszugeben, nahm er in die Versammlung der Heroen auch den Hasborner Ecktisch-Sitzer auf.
Es meldete sich auch das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar, zu seinen Händen vermerken seither die Rechs treuhänderisch auf jedem Manuskript das Datum des Entstehens. Ein ganzes Stübchen im Obergeschoss ihres Hauses in Thalexweiler ist den Werken des Freundes reserviert, in mehr als 60 Ordnern, in Schränken und Regalen sind sie sorgsam verwahrt und sortiert, für den Transfer nach Marbach und für die Forschung bereit. Im Ganzen lagern dort mehr als 20.000 Gedichte, die meisten unveröffentlicht, wiewohl inzwischen 21 Lyrik-Bände auf Deutsch erschienen, von Irmgard und Benno Rech herausgegeben. Hinzu kommen eine Erzählung, ein Märchenband und einige Einakter.
Beihilfe von Emigranten aus der Heimat
Zum Einsatz für den Autor entschlossen sich auch Landsleute aus der Schaumberg-Region, Emigranten, die im heimatlichen Umfeld von ihm hörten und ihm in der Welt zur Geltung verhelfen wollten. Die Buchhändlerin Helga Purm, aus Hasborn gebürtig, organisierte Lesungen in Karlsruhe und Heidelberg; die Journalistin Dorothee Holz, ebenfalls aus Hasborn kommend, drehte einen Film fürs ZDF. Die Kölner Literatur-Professorin Birgit Lermen, aus dem benachbarten Theley stammend, verfasste über Kühn einen Eintrag im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zudem ermöglichte sie dem Dichter die Teilnahme an drei internationalen Symposien in Cadenabbia am Comer See, dem locus amoenus der Konrad-Adenauer-Stiftung. Und dank einer Einladung von Bernd M. Scherer, geboren in Scheuern und vormals ein Schüler der Rechs, brach der 69-Jährige 2003 von Hasborn nach Mexiko auf. Bei einem internationalen Schriftstellerkongress las er dort im größten Saal von Tampico zusammen mit dem Peruaner Mario Vargas Llosa, dem Nobelpreisträger in spe. Bernd Scherer leitete damals das Goethe-Institut in Mexiko und wurde später der Intendant des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin.
Auch Hasborn und die Großgemeinde Tholey, zu der das 2800 Einwohner zählende Dorf gehört, haben den Poeten längst neu entdeckt. Die bessere Bildung hat die Gesellschaft auf dem Land verändert, auch hier gibt es immer mehr Akademiker. Der Kunst wurden neue Interessenten erschlossen, junge Leute zumal, die in der Schule mit Johannes Kühn bekanntgemacht werden. Mag Kühn an seinem Wirtshaustisch im Winkel auch spötteln, das sei „das Interesse an einem Gescheiterten, der sich gefangen hat“ – der Wandel ist unverkennbar. Die Stichler von einst, „die sind alle tot“, sagt Kühn, und wenn er heute in der Hasborner Kulturhalle ein neues Werk vorstellt, ist der Saal gefüllt, mitunter werden mehr als 150 Bücher verkauft und von ihm signiert.
Vor allem hat wohl auch der Ruhm dazu geführt, dass Kühn heute „ein sehr angesehener Bürger ist“, wie der Ortsvorsteher Walter Krächan sagt. „Wir sind auch stolz auf ihn.“ Krächan gehörte wie Kühns Familienangehörige und mehrere Hasborner Freunde sowie die Rechs und Ludwig Harig zu jener Gruppe, die den Dichter im Jahr 2000 nach Regensburg zur Entgegennahme des Hermann-Lenz-Preises begleiten durfte. Eingeladen vom Preisstifter, dem Verleger Hubert Burda, wurden sie prächtig umsorgt und bewirtet und waren entzückt von dem Charme, den der Preisrichter Peter Handke entfaltete, auch er ein Junge aus einem Dorf (in Kärnten).
Johannes Kühn in seinem Winkel im Gasthaus Huth in Hasborn, hier im Gespräch mit dem Journalisten Klaus Brill im Jahr 2008. Foto: Tom Störmer
Verse, gesättigt mit Realität
Für Kühn war es das erste größere Fest unter Literaten. Er genoss es mit Vorsicht, so wie er mit gelindem Erstaunen zur Kenntnis nahm, wie sein Verleger Michael Krüger sich im Gedränge der Frankfurter Buchmesse 2007 am Stand des Hanser-Verlages vor ihm niederkniete, die Hände erhob, mit der Stirn den Fußboden berührte und feierlich sprach: „Ich verehre den Dichter Johannes.“ Eine Proskynesis nach altorientalischer Art.
Kühns Welt ist freilich nicht der Literaturbetrieb, sondern das Dorf. Seine Themen sind dessen Menschen, Tiere, Pflanzen, Feste, Jahreszeiten. Im jüngsten Band „Ganz ungetröstet bin ich nicht“, der im September 2007 erschien und binnen eines halben Jahres schon der zweiten Auflage bedurfte, befasst er sich auch mit dem Alter, den Dorfveränderungen, zeigt sich mit seiner „Liebschaft, der Einsamkeit, im Arm“. Seine Verse sind, auch wenn da ein lyrisches Ich spricht, so realitätsgesättigt, dass man sie überall auf der Welt und auch in Hasborn versteht. Den Einheimischen hat Kühn zudem als Delikatesse einen Band mit Mundartgedichten serviert, bei deren Vortrag im Saale munter gegluckst und gelacht wurde.
Das Verseschmieden ist nun im Schaumberger Land ebenso als ehrbares Dorfhandwerk anerkannt wie einst das Schmieden, das Kühns Großvater berieb. Weshalb der Enkel nun auch in Hasborn Anfragen erhält, die er freundlich und entgegenkommend erwidert: Gedichte zum 100. Kirchenjubiläum, zu Gründerfesten des Gesangvereins, des Sportvereins, des Roten Kreuzes, Gedichte zum Geburtstag, zur Brunneneinweihung und fürs Heimatbuch. „Der Johannes Kühn ist ein Genie“, sagt Alois Finkler, der Vorsitzende des Vereins für Heimatgeschichte Hasborn-Dautweiler, „der hat seinen Weg gemacht.“ Viele Leute erkennten ihn an, „vor allem die, die sich etwas denken.“
„Er ist der bekannteste Bürger unserer Heimat“, sagt auch der Tholeyer Bürgermeister Hermann Josef Schmidt, der Kühn bereits 2003 zum Ehrenbürger der Großgemeinde machte. 2004 kam eine Ehrenprofessur der Saarländischen Landesregierung hinzu, auch Benno Rech wurde in dieser Weise vom Ministerpräsidenten Peter Müller, einem früheren Schüler, ausgezeichnet. Und als Kompliment ist es auch gemeint, wenn Bürgermeister Schmidt scherzt, Kühn gehöre „quasi hier zu den Attraktionen der Gemeinde Tholey“.
Ein Wortsegel aus Stahl
Weshalb man 2007 auch einen Johannes-Kühn-Wanderweg durch den Hügelring um Hasborn ausschilderte, der sofort bestens angenommen wurde und auch viele Fremde anzieht. An besonders markanten Aussichtspunkten stehen Tafeln mit Gedichten von Johannes Kühn, eigens zu diesem Zweck verfasst. Außerdem hat der mit Kühn befreundete saarländische Bildhauer Paul Schneider dort einen großen Johannes-Kühn-Stein platziert, auf dem das Gedicht „Lichtwechsel“ eingemeißelt ist: „Es tritt die Nacht sich selber auf die Schleppe / und stolpert, dass der Himmel schwankt...“
So steht nun die Poesie am Schaumberg im Dienste des Fremdenverkehrs – ist größere gesellschaftliche Akzeptanz noch denkbar? Das Dichten ist also doch zu etwas nütze, aber auch sein ideeller Wert ist erkannt. Im Tholeyer Ortsteil Sotzweiler ist als „Denkmal für die Poesie“ ein „Wortsegel“ aufgerichtet worden. Der aus Sotzweiler stammende Künstler und Professor Heinrich Popp hat diese riesige Stahlplastik geschaffen, die Dillinger Hütte steuerte den Stahl dazu bei. Nach diesem „Wortsegel“ ist auch ein neuer Schreibwettbewerb für Schüler benannt.
„Die Heimat“, sagt Johannes Kühn dazu verschmitzt in seinem Winkel, am Tisch des Gasthauses Huth in Hasborn sitzend, „hat den Dichter erkannt und wertet seinen Ruf in gutem Sinne aus.“
* Zur Quelle: Dieser Text ist die überarbeitete Version einer Reportage, die am 20. Juni 2008 auf Seite Drei der Süddeutschen Zeitung erschien. Der Autor, gebürtig aus Alsweiler im Schaumberger Land, war für die SZ mehr als 30 Jahre lang tätig, unter anderem als Auslandskorrespondent in Rom, Prag, Warschau und Washington sowie als Leiter der Reportage-Redaktion (Seite Drei). Wir danken dem Süddeutschen Verlag, Abteilung Syndication, für die freundliche Genehmigung zur Wiederverwendung an dieser Stelle. Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung der SZ auch bereits im Entdecker-Magazin „Johannes Kühn – der Dichter aus dem Dorf“ veröffentlicht, das Klaus Brill zusammen mit Benno Rech 2009 in der Edition Schaumberg herausgab.