Ich brauche nicht über
mein Leben zu sprechen,
weil ja alles in den Gedichten steht.
J. Kühn zu Ludwig Harig
Johannes Kühn ist am 3.2.1934 in Bergweiler/Saar als erstes von 9 Kindern in einer Bergmannsfamilie geboren. Sein Großvater, den er besonders liebte, war Schmied.
Johannes Kühn hat außerordentlich viele Gedichte geschrieben und eine große Anzahl Dramen, in der Hauptsache Einakter. Außerdem gibt es von ihm zwei Prosawerke und eine Reihe von Märchen. Es sind bis jetzt sechzehn Gedichtbände, ein Band mit Märchen und ein Programmheft des Staatstheaters Saarbrücken mit den Texten von drei Einaktern erschienen. Zudem gibt es eine Fülle von Zeichnungen, von denen wir einige in seinen Märchenband aufgenommen haben.
Seit 1948 besuchte er die Missionsschule
der Steyler Missionare in St. Wendel. Dort herrschte
ein sehr strenges Klosterleben. Johannes und mich verband
dort insbesondere eine gemeinsame Zuneigung zur Dichtung (Hölderlin,
Mörike, Trakl, Rimbaud). Mit vierzehn Jahren begann Johannes mit
großem Einsatz zu schreiben. Auf langen Spaziergängen haben
wir über die Gedichte, Erzählungen und Märchen gesprochen.
1953 haben wir das Missionshaus verlassen. Johannes erkrankte an
einer nassen Rippenfellentzündung, und als er wieder gesund war, hatten wir anderen
bereits Abitur. Um auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen, fehlte
das Geld. So hat er neben dem Broterwerb als Gasthörer an den Universitäten
Saarbrücken und Freiburg i.Br. Deutsch studiert.
Ein Dichter muß schreiben, auch wenn er andersweitig sehr belastet
ist. Johannes hat von 1963 bis 1973 in der Tiefbaufirma seines Bruders als
zweiter Mann am Bagger, d.h. als derjenige, der im Graben mit Schippe und
Hacke für das Planum sorgen muss, malocht und dennoch Theaterstücke,
Märchen und Gedichte geschrieben.
Größere Erfolge blieben aus. Er wurde in regionalen Zeitungen
und am hiesigen Rundfunk veröffentlicht. 1966 erhielt er für sein
Stück Die Totengruft den Preis der Dramatischen Werkstatt
Salzburg, die ihn seit 1963 mehrfach eingeladen hat, 1969 erschien im
Saarbrücker
Verlag Die Mitte sein zweiter kleiner Gedichtband Stimmen der Stille .
Vielleicht bedingten die an der Qualität seiner Dichtung gemessene Erfolglosigkeit
und der falsche Beruf seine Erkrankung, die zu wiederholten Aufenthalten
in einer Klinik führte.
In dieser Lebensphase dichtet er weiter,
malt und durchwandert täglich
die Schaumberggegend. Er erregt erstes überregionales Aufsehen mit seinen
Arbeitergedichten. Peter Rühmkorf schreibt dazu in DIE ZEIT: Verse,
die also wirklich und wahrhaftig vom Bau sind und einmal nicht mit angenommener
Proletenstimme sprechen...und das haftet seinen Gedichten an wie ein unabstreifbarer
Erdenlehm . Seit den Arbeitergedichten kennzeichnet Kühns Lyrik
jene fruchtbare Spannung zwischen hohem, hymnischem Ton und der Alltagssprache,
hier dem Arbeiterjargon. Rüdiger Görner spricht in der NEUEN ZÜRCHER
ZEITUNG von einer Poesie der Gegensätze: Zarte Lyrismen stehen neoexpressionistischen
Bildern entgegen . Diese Feststellung bewahrheitet sich noch einmal
besonders auffällig an dem Hanser-Band von 1997: Wasser genügt
nicht. Gasthausgedichte.
Neben den Erfahrungen aus der Arbeitswelt gehen auch seine Erlebnisse
mit der Krankheit in die Gedichte ein. Ludwig Harig schreibt in der FRANKFURTER
ALLGEMEINE: Er nimmt das Unabänderliche, das Kreatürliche,
das Elementare in seine Gedichte hinein wie sein eigenes Unglück: "Ich
bin bis ans Ende in Trauer gewelkt." oder: Johannes Kühns
Gedichte sind die Glücksfälle seines Unglücks .
Johannes Kühn erfährt ein Hölderlin-Schicksal mit gutem Ausgang.
Anfangs der achtziger Jahre stellt er sein Schreiben nach und nach ein, er
bemüht sich auch um keine Veröffentlichung mehr und trägt
seine Manuskripte auf den Speicher. Dort finden wir sie unter alten Zeitungen
und Briefen. Gott sei Dank hatte er uns fast von allem einen Durchschlag
geschickt, so dass wir eine vollständigere Sammlung als er selber
hatten.
Unser Glaube an die Qualität seines Werkes lässt uns, unterstützt
von Ludwig Harig, 1983 mit der Arbeit für Salzgeschmack (bisher
viermal aufgelegt) beginnen. Mit diesem Band wollten wir einen Einblick
in die Vielfalt seiner lyrischen Themen und Töne geben. Reiner Kunze urteilt über Salzgeschmack:
Das ist ein Dichter! und wir fühlten uns wie Finder unausdenkbarer
Schätze .
Ab 1983/4 hat sich Johannes Kühn für fast 10 Jahre aus der Gesellschaft
zurückgezogen und kaum noch gesprochen. In dieser Zeit haben wir dann
die Sichtung und Herausgabe seiner Gedichte angepackt. Wir mussten unsere
Auswahl unter einer sehr grossen Zahl von Gedichten treffen. Viele davon
sind erste und vorläufige Annäherungen. Gelegentlich hat er ein
Thema in vier- oder fünfacher Variation ausprobiert, wobei die letzte
Fassung nicht immer die beste ist. Die gültige Fassung, dazu war er
bereit, haben wir dann jeweils mit ihm bestimmt. Auf diese Weise sind die
Gedichtbände Meine Wanderkreise (Verlag Die Mitte), Ich
Winkelgast, Gelehnt an Luft (beide Hanser) und Blas aus die Sterne (Keicher)
entstanden, außerdem der Märchenband Zugvögel haben mir
berichtet (Hempel).
Seit 1992 schreibt er wieder beinahe
täglich Gedichte. Sie unterscheiden
sich von den früheren vor allem durch eine neu gefundene Lebenseinstellung.
Als Peter Rühmkorf die neuen Gedichte sah, schrieb er uns: Das ist
ein Auferstehungswunder .
Seine Sprache ist jetzt weniger emphatisch, sie wird zupackender, ist
durchsetzt mit distanzierender Komik, spielerischem Witz und einer guten
Prise Selbstironie.
Das Leiden an der Außenseiterrolle tritt zurück, die Ungesichertheit
der menschlichen Existenz überhaupt gewinnt an Bedeutung.
Gedichte zu schreiben gehört also wieder in seinen Tagesablauf, ist
ihm nutzvolle Arbeit, die er redlich bewältigen möchte. Es sind
Gedichte zur Rettung der Natur, und immer wieder schreibt er gegen den Kummer
der Welt an, gegen die Trauer, die Langeweile, die Einsamkeit, die Ohnmacht,
gegen die Verführbarkeit des Menschen zum Krieg. Er erhebt nicht den
Anspruch, ewig gültige Gedichte zu schreiben, sie sollen nur vor der
gerade aufkommenden Verzweiflung schützen. Johannes Kühn riskiert
eine sehr pragmatische Zweckbestimmung: Lyrik kann von Bedrückung frei
machen.
Er redet jetzt auffällig oft über den lyrischen Schaffensvorgang.
Den Zuhörern einer Lesung erklärte er: Der Dichter wartet nicht
auf Stimmungen. Er holt sich ein weißes Blatt Papier und beginnt mit
dem Schreiben. Dabei kommt ihm sein handwerkliches Können zugute. Also,
der Dichter muss sein Handwerk kennen wie ein Schmied. Ein andermal
redet er von der Lyrik als einem Planspiel unter einer Beabsichtigung bei
grossem Kunstaufwand. Dieses bewußtere Schreiben ist den Gedichten
anzumerken, bei aller müheloser Spontaneität, die er sich bewahren
konnte. Seine Absichten lassen sich nicht in modischer Manier erreichen.
Ich strebe nach dem einfachen Sagen, bekundet er, der sich vom Literaturbetrieb
fernhält. Und er richtet in einem Gedicht an sich die Botschaft: Jede
Umkehr in ein lautes Leben / sei für mich verboten.
Wir haben die Gedichte dieser Arbeitsphase unter den folgenden Titeln
herausgegeben: Leuchtspur , Wasser
genügt nicht (beide bei Hanser), Wenn die Hexe Flöte
spielt , Lerchenaufstieg (beide im Keicher Verlag), Voll
Geheimnis - ganz wie die Welt (Heiderhoff Verlag) Hab ein Auge
mit mir . (Johannes Kühn: Gedichte, Wolfgang Wiesen: Fotos) (edition
photophil), Vom Lichtwurf wach (Keicher Verlag) und zuletzt Mit
den Raben am Tisch (Hanser Verlag).
Johannes Kühn hat über sein ganzes Leben Märchen geliebt. Es begann mit seiner Großmutter, die wunderbar fabulieren konnte. Seine eigenen Märchen erlauben keine direkte Übertragung ihrer Wirklichkeit auf die heutige Alltagsrealität. In ihnen kommen keine Maschinen vor, weder Autos noch Computer, noch Fernsehgeräte. Der Krieg scheint antiquiert. Ihre Welt ist altmodisch und utopisch zugleich. Der Märchenband Zugvögel haben mir berichtet (Hempel Verlag 1988) ist vergriffen, ebenso Wenn die Hexe Flöte spielt . Ein Märchen, Gedichte und Bilder (Keicher Verlag 1994).
Seine Mundartgedichte schrieb Johannes
Kühn nicht aus Laune oder Sentimentalität.
Sie sind, entstanden über die ganze Zeit seines Schaffens, notwendiger
Ausdruck seines Dorfempfindens. Und was er zum Ausdruck bringt, die Nähe
zu den Leuten der Nachbarschaft, das bergmannsbäuerliche Milieu mit
seinem besonderen Lebensgefühl, lässt sich adäquat nur
im Wortschatz, im Klang der originären Sprache dieser Menschen in Poesie
verwandeln. Es handelt sich um den Glücksfall, dass hier einer
das Kulturgut seiner saarländischen Mundart im Sprachkunstwerk bewahrt.
Wir haben die wichtigsten in einer Gesamtausgabe Em Guguck lauschdre (Gollenstein
Verlag) zusammengestellt. (Auf einer CD aus dem Gollenstein Verlag liest
Johannes Kühn Gedichte in Hochdeutsch und Mundart sowie ein Märchen).
Wulf Kirsten zieht zur Einordnung Johann Peter Hebel als Vergleich heran,
und Ludwig Harig schreibt: Wörter und Bilder von Johannes Kühns
Mundart greifen und umgreifen eine Welt, die auf andere Weise nicht zu greifen
und zu umgreifen, also auch nicht zu begreifen ist. Fern jeder Art von Mundartschnulzen...bestätigen
diese Gedichte Kühns hohe Meisterschaft metaphorischer Lyrik.
José Reina, der 2000 den Nationalpreis für Literaturübersetzung
des spanischen Kultusministers erhalten hat, brachte im Verlag Bassarai (2001)
eine Sammlung von hundert Gedichten (Johannes Kühn. Cien Poemas ) wie "Salzgeschmack" (" Sabot
a sal ") in Spanisch heraus.
Edoardo Costadura wird 2002 Gedichte über das Meer in Italien publizieren.
Mitsuo Iiyoshi hat Ich Winkelgast ins Japanische übertragen.
(In: The Subaru Monthly, Juli 1999 sind die 32 ersten Seiten davon veröffentlicht.)
Iiyoshi schreibt dazu in einer grossen japanischen Tageszeitung: Johannes
Kühns Werke haben den Vorzug, Schmerzen ins Wunderbare zu wandeln. Er
heilt Wunden des Herzens. Die Eigenart, daß Johannes Kühn aus
seinem Leiden heraus eine lyrische Sprache findet, die sich nicht auf Klage
und Anklage beschränkt, rufe bei Japanern eine besondere Wertschätzung
hervor.
Jean-Pierre Lefebvre, der Herausgeber der Anthologie bilingue de la poésie
allemande (de Dietmar von Aist à Johannes Kühn), erschienen in
der Pléiade, nannte vier Gründe, warum er sechs (kein lebender
Autor ist mit mehr vertreten) Gedichte von Johannes Kühn ans Ende seiner
Sammlung gestellt hat: Er sei ein Dichter, der wieder von vielen gelesen
werden könne. Er stehe in der besten deutschen Tradition (Klopstock,
Hölderlin, Trakl). Er gehöre keiner Schule an. Und er habe ein
Signal setzen wollen, dass die Art wie Johannes Kühn dichtet, ein
guter Weg für die Zukunft der deutschen Lyrik sei.
Bemerkenswert erscheint uns, daß alle vier Übersetzer vor Johannes
Kühn Paul Célan übersetzt haben.
Johannes Kühn fallen Gedichte gleichsam zu. Daher ihre erstaunliche
Zahl. Er ist also kein lyrischer Tüftler. Seine Gedichte entstehen meist
in einem Wurf und oft nicht am Schreibtisch, er notiert sie spontan auf einem
Spaziergang, im Autobus, beim Gasthausbesuch.
Als Michael Krüger, der Leiter des Hanser Verlages, in einem Rundfunkinterview
gefragt wurde, warum er Johannes Kühn in sein Verlagsprogramm aufgenommen
habe, antwortete er: Man ist sehr erfreut, wenn man plötzlich den Ton
vernimmt, der sich von allen andern unterscheidet.
Ähnlich urteilt Reiner Kunze: Wer vergessen haben sollte, was Poesie ist - hier
erfährt er es wieder.
Irmgard und Benno Rech
Herausgeber
des Werks von Johannes Kühn